05.08.15

Verlust - Gewinn



Beim gestrigen Morgenspaziergang wurde ich angesprochen. Der Mann hieß, wie ich danach erfuhr, Michael Georgiewitsch. Seine Anrede war eigenartig: „Väterchen, wie ist die Lage? Haben wir Mariupol schon aufgegeben?“ Da musste ich ihn fragen, wieso er mir diese Frage stellte. „Ihnen sieht man doch den Militär auf den ersten Blick an.“ Wir machten uns bekannt und nach Austausch von Meinungen zum aktuellen Geschehen fragte mich der pensionierte Oberst, warum ich mit dem Hund nicht im Park Alexandrija spazieren gehe. Meinen Einwand, dass dort Hunde nicht erwünscht sind, beantwortete er damit, dass er nach meiner Heimat fragte. Ukrainern ist das Verbot nämlich schnuppe. Als ich erklärte, Deutscher zu sein, fragte er, ob ich denn überhaupt den bekannten Dendropark schon besucht hätte. Den Beweis lieferte ich sofort. Denn konnte ich ihm genau beschreiben, wo die Danksäule für einen deutschen Gartenarchitekten zu seinem 50-sten Dienstjubiläum steht. Er seinerseits musste eingestehen, dass er diese für eine Art Grabstein gehalten hätte. Durch meine offenen Augen war ich ihm also überlegen, ohne ihn zu beleidigen.  

Gestern war ich nachmittags bei meiner Zahnärztin. Sie fragte nach der Begrüßung: „Worüber beschweren sie sich?“ Da ich keine Beschwerden hatte, wollte sie den Grund meines Besuchs wissen. Ich informierte sie über die Operation an meinem linken Kniegelenk vom Monatsende in Berlin. Sie als Medizinerin wisse sicher besser als ich, dass zur Vermeidung von Komplikationen keine Infektionsherde im Körper des Patienten vorhanden sein sollten – auch keine versteckten. „Sie kenne ich doch schon lange, weil sie ständig rechtzeitig vor größeren Schäden am Gebiss zu mir kommen. Allerdings hatte ich sie bisher nicht als so angenehm vorausschauend eingeschätzt.“ Die Durchsicht ergab keine Probleme. Mit besten Wünschen für die OP wurde ich entlassen. Das freut denn doch auch. 

Auf dem heutigen, etwas verspäteten Morgenspaziergang mit Hund kam ich heimwärts gehend am Ableger des eigentlichen Marktes vorbei. Auf der recht breiten Spazierallee am Kreuzweg zum Basar hatten sich „fliegende Händler“ eingefunden. Sie verkaufen Blumen, Obst und Gemüse um einiges preiswerter als die Nutzer der Marktstände. Denn auf dem Rynok (auch Basar auf Russisch) sind je Platz gewisse Beträge zu zahlen. Diese Kosten werden wie üblich mit auf den Kunden abgewälzt – über den Preis. Marktwirtschaft eben. Weil bei einer Verkäuferin sauber ausgelesene junge, genauer noch saftige Saubohnen für fünf Hrywna je volles Marmeladenglas angeboten wurden, zahlte ich zwei Hrywna an mit der Bemerkung, dass ich in 15 Minuten mit dem restlichen Geld für vier Gläser voll wieder da sein würde. 
Als ich nach etwa erst 25 Minuten ankam, war die fliegende Händlerin ausgeflogen. Einige Plätze weiter saß eine Oma, die ihre frischen Saubohnen für vier Hrywna das Glas voll anbot. Also zahlte ich 16 Hrywna für die Ware, für welche ich im anderen Fall hätte 18 auf die Hand legen müssen. Hatte meine Vorkasse eingespielt, dazu noch, wenn auch notgedrungen, rund 400 m Spazierweg zugelegt. Außerdem werde ich heute eine gesunde Delikatesse essen. So habe ich einen scheinbaren kleinen Verlust ganz einfach durch eine andere Sicht auf das gesamte Geschehene in ein positives Gefühl wandeln können.

Mit den drei hier geschilderten Vorgängen habe ich erneut etwas vom Verhalten realisiert, zu dem mir ein Freund vor kurzem einen Artikel schickte: „Ein Grund für die Langlebigkeit vieler Japaner“. Meine Übersetzung ins Deutsche werde ich hier veröffentlichen, wenn sie fertig ist.  

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger





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