06.08.15

Seelenfrieden



Die besonders ansehnliche und gebildete Moderatorin einer für mich sehr sehenswerten ukrainischen Fernsehsendung bat letztens ihren Gast, einen grusinischen (georgischen) Künstler vor dem Abspann, zum servierten Glas Rotwein einen Trinkspruch auszubringen. Nach einigem Nachdenken meinte er: „Lasse uns auf den Frieden trinken. Nicht im Sinne der Beendigung des Waffengangs im Osten, sondern so, wie er häufig als dritter Tost in meiner Heimat modifiziert ausgebracht wird – auf den Seelenfrieden. Dass wir ihn persönlich anstreben und erreichen, damit wir in unserer Familie, mit den Freunden und mit allen Menschen unserer Umgebung in Harmonie zufrieden leben können.“ 
Dieser Trinkspruch hat mich beeindruckt. Vor allem, als ich nach einer Viertelstunde auf einem anderen Kanal wie vorgesehen den Film zum Atombombenabwurf auf Hiroshima sah. Zu diesem schreibe ich aber unter http://mein-ostblock.blogspot.com/ einen anderen Post. Denn ich erinnerte mich an einen Vorgang, den ich im obigen Zusammenhang nicht verschweigen sollte. 

An dem Abend, da ich den oben zitierten Trinkspruch hörte, hatte ich mit meinem Stiefsohn eine kleine Auseinandersetzung. Er ist Koch von Beruf und hat einen extrem ausgeprägten Geruchssinn. Nicht zum ersten Mal kam er von Arbeit relativ spät heim und sagte nach dem Gruß sofort und laut: „Wonach stinkt das denn hier?“ Da seine immer ihn zu verteidigen bereite Mama nicht, sondern nur seine Verlobte anwesend war, hakte ich nach. Ich fände es beleidigend für alle Anwesenden, wenn er auf so grobe Art ihn beunruhigende Gerüche bezeichnete. Immerhin müssten danach wir uns die Jacke anziehen, für „Gestank“ verantwortlich zu sein. Er verteidigte sich mit seine „Kochnase“. Mein Argument, er könne doch auch fragen: „Was wurde denn hier gekocht?“ oder ähnliches, das nicht so beleidigend wäre, nahm er etwas murrend zur Kenntnis. Seine Verlobte schwieg diplomatisch. Ob sie mit ihm später über die Angelegenheit gesprochen hat, weiß ich nicht. 
Als ich am Folgemorgen mit dem Hund zum Spaziergang aufbrach, war Pascha schon munter. Was ich nicht wusste – er musste etwas früher auf Arbeit in Kiew sein. Wir trödelten wie gewohnt mit Hund Kai ein wenig – er musste viele Grashalme beschnuppern. Hinter mir ertönten rasche Schritte. Wie üblich drehte ich mich nach denen nicht um. Aber da strich mir jemand sanft mit der Hand von hinten über meine Igelfrisur. Ein Blick zur Seite – das war Pascha. 
Er hat unter bestimmten Umständen trotz seiner schon 37 Jahre die Angewohnheit, diese bei anderen ganz unübliche männliche Zärtlichkeit an mich zu verschenken. „Ich fahre!“ sagte er nur. Begriffen hatte ich schon vor seinen Worten, dass wir beide wieder klar mit einander waren, unseren Seelenfrieden erreicht hatten. Auf dem Spaziergang konnte ich mehrfach lächeln – die Streicheleinheit tat das ihre dazu. 
Meine auch ohne diese Begebenheit wache Aufmerksamkeit bemerkte etwas in dieser Gegend nicht besonders häufiges. Als wir am Eingang zum Armeelazarett vorbeiliefen, auf dessen Territorium eine kleine Kirche sichtbar ist, kam uns ein Mann entgegen, der sich sehr verstohlen bekreuzigte. Sehr offen hatte ich diese Art Ehrerweisung in der Westukraine gesehen, wenn sogar die meisten Fahrgäste von Autobussen bei Passieren von Kirchen oder Kapellen ein Kreuz schlugen. Also ordnete ich die Geste des einzelnen Gläubigen auch nach dem grusinischen Trinkspruch ein. Sie hat seinen Seelenfrieden bestärkt. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger 





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