19.08.13

Persönlichkeitsbilder...

          Der nächste Teil des russischen Gastartikels meines Freundes Valentin handelt davon, wie sich mit der Zeit unsere Vorstellungen einer nahestehenden Persönlichkeit wandeln. 

          In uns lebt gewöhnlich ein Uraltbild, archetypisch. Eine vergötterte Mutter (oder ein verehrter Vater), die liebende Frau (der Mann) – gewissermaßen eine Art Standard, von dem wir ausgehen, wenn wir bei der Suche realer Personen sind oder bei deren Vergleich. Mama – das ist die beste, wärmste, gütigste, unirdische Mutti. Muster der frühen Kindheit. Der Mann – ein Ritter, Schutzschild, Freund, Denkmalsmuster. Erste Eindrücke beginnender Reife. 
          Das nächste ist ein aus den realen Ereignissen gestricktes ideales Erinnerungsbild an die besten, allerschönsten Momente des Lebens. Es ist getränkt von den gewohnten heimischen Gerüchen, dem Geschmack von Muttis Pirogen, Vaters kräftiger Umarmung, den heimlichen Versprechungen des Ehemannes oder der Ehefrau, und so weiter… Besonders dieses Muster schafft vor allem dann Leid, wenn es mit der Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmt. Dank dieser Vorstellung haben wir es schwer, Entscheidungen zu treffen. Sie sehen vor sich einen Menschen, der schon längere Zeit in Demenz verfiel, aber alles in Ihnen schreit: „Nein, das ist er nicht, das ist doch nicht möglich, das ist doch mein Papa, mein guter Vater.“ Wir sind eher bereit, uns von dem eigenen Verstand zu trennen, nur nicht die Wahrheit des Lebens anzuerkennen. Denn das bedeutet: alles im Leben geht einmal zu Ende, auch wenn es das Gute ist. 
          Ich habe Svetlana häufig gesagt: „Nehmen Sie doch ihren Mut zusammen – jene Frau, die einmal ihre Mutter war, gibt es lange nicht mehr.“  Sie weinte und fuhr wieder und wieder zum Heimathaus in der Hoffnung, dass jetzt die Tür von ihrer früher so geliebten Mama geöffnet wird. Und ging jedes Mal leer aus. 

          Weil das dritte Muster – der Schrei der Wirklichkeit ist! Das, was Sie jetzt vor sich sehen. Wenn die Realität gegen die vorher genannten beiden wunderbaren Vorstellungen auftritt, dann entwickeln wir plötzlich in uns ein Schuldgefühl. Wir sagen uns: „Vielleicht habe ich irgendetwas nicht so gemacht wie nötig. Gewiss habe ich sie / ihn nicht richtig geliebt, mich nicht ausreichend um sie / ihn gekümmert.“ Und danach beginnt die totale Sorge. Mit ähnlicher innerer Raserei beginnen wir beim ersten Mal eine Diät oder gehen ins Fitnesszentrum, wenn wir feststellen, dass die zufällig in den Tiefen des Schrankes aufgestöberten geliebten Jeans aus der Studentenzeit absolut nicht mehr passen. Allerdings verschwindet Demenz nicht dadurch, dass irgendjemand irgendjemanden mehr zu lieben beginnt. Es beginnt in der Folge ein Film unserer Zeit: erwachsene Töchter oder Söhne verwöhnen trotz ihrer extravaganten Kapricen unleidliche Alte, glauben innig daran, dass sie selbst fürchterliche Kinder sind. Die Betreuten erfassen das alles mit einem fast tierischem Instinkt, wittern regelrecht das Fluidum der Schuldhaftigkeit, werden absolut unerträglich, beginnen im eigenen Verhalten Kleinkindern immer ähnlicher zu werden. 
        Welch ein Glück, sein Leben lang bei vollem Verstand zu bleiben. 

Gesunder Menschenverstand. 

          „Bei gesundem Menschenverstand und nüchternem Gedächtnis.“ – so ähnlich wird es in unterschiedlichen Dokumenten fixiert oder dann formuliert, wenn stabile Vereinigungen gegründet werden. Was aber geschieht, wenn einer der Partner diesen gesunden Menschenverstand bewahrt, der andere jedoch ihn verliert? So etwas geschah mit Natascha, die einen wesentlich älteren Mann aus Irland heiratete, mit etwas über 40 Jahren allein im Ausland war, mit miserablen Sprachkenntnissen, fast ohne finanzielle Mittel zum Überleben und mit einem Ehemann – einem alten Marasmatiker in den Armen. Als dieser Mann über 60 Jahre alt wurde, bildete er sich ein, dass Natascha ihn betrügt und gemeinsam mit ihren Liebhaber ihn umzubringen plant. Alles das erzählte er allen Nachbarn, wenn Natascha ihn im Invalidenwägelchen spazieren fuhr. Die Nachbarn hörten teilnahmsvoll nickend zu, nur Natascha, die die irische Unterhaltung nicht verstand, erfasste nicht, weshalb die Leute einerseits sie seltener grüßten, andererseits ihren Mann anscheinend besuchen kamen, wenn der nicht daheim war – was sie wussten. Seine Frau finanziell einschränkend, engagierte der alte Herr sogar einen Privatdetektiv, welcher Beweise für ihre Untreue sammeln sollte. Als jener Beweise für ihre treue vorlegte, beschuldigte ihn der Ehemann, mit ihr gemeinsame Sache zu machen.  Was soll man da sagen? Natascha hätte sich scheiden lassen können, nach Hause zurückkehren und die unselige Ehe vergessen. Jedoch entschied die abergläubische und gottesfürchtige Natascha anders. Sie fürchtete, wenn sie den Ehemann in diesem Zustand allein lässt, dass auch sie in der Zukunft von Demenz geschlagen wird. 

          Hier widersprechen die Psychophysiologen! Denn Demenz droht vor allem jenen, welche ihr Leben gestalten ohne ihre Vorstellungen und Vorgaben zu ändern. Solche Charakterzüge wie überzogene Prinzipientreue, Hartnäckigkeit, Konservatismus haben im Alter häufiger Demenz zur Folge als Flexibilität, Fähigkeit zu raschem Ändern von Entscheidungen, Emotionalität. Ein anderer bekannter russischer Klassiker schrieb: „Hauptsache ist, Jungs, mit dem Herzen nicht zu altern.“  Es ist jener, der mit fast achtzig Jahren eine um 40 Jahre jüngere Frau heiratete. Und bis ans Ende seiner Tage glücklich war – sagt man. 

Bleiben Sie recht gesund! 

Ihr 

Siegfried Newiger







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