Der nächste Teil des russischen
Gastartikels meines Freundes Valentin handelt davon, wie sich mit der Zeit
unsere Vorstellungen einer nahestehenden Persönlichkeit wandeln.
In uns lebt
gewöhnlich ein Uraltbild, archetypisch. Eine vergötterte Mutter (oder ein
verehrter Vater), die liebende Frau (der Mann) – gewissermaßen eine Art
Standard, von dem wir ausgehen, wenn wir bei der Suche realer Personen sind oder
bei deren Vergleich. Mama – das ist die beste, wärmste, gütigste, unirdische
Mutti. Muster der frühen Kindheit. Der Mann – ein Ritter, Schutzschild, Freund,
Denkmalsmuster. Erste Eindrücke beginnender Reife.
Das nächste ist ein aus den
realen Ereignissen gestricktes ideales Erinnerungsbild an die besten, allerschönsten Momente des Lebens. Es ist
getränkt von den gewohnten heimischen Gerüchen, dem Geschmack von Muttis
Pirogen, Vaters kräftiger Umarmung, den heimlichen Versprechungen des Ehemannes
oder der Ehefrau, und so weiter… Besonders dieses Muster schafft vor allem dann
Leid, wenn es mit der Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmt. Dank dieser
Vorstellung haben wir es schwer, Entscheidungen zu treffen. Sie sehen vor sich
einen Menschen, der schon längere Zeit in Demenz verfiel, aber alles in Ihnen
schreit: „Nein, das ist er nicht, das ist doch nicht möglich, das ist doch mein
Papa, mein guter Vater.“ Wir sind eher bereit, uns von dem eigenen Verstand zu
trennen, nur nicht die Wahrheit des Lebens anzuerkennen. Denn das bedeutet:
alles im Leben geht einmal zu Ende, auch wenn es das Gute ist.
Ich habe
Svetlana häufig gesagt: „Nehmen Sie doch ihren Mut zusammen – jene Frau, die
einmal ihre Mutter war, gibt es lange nicht mehr.“ Sie weinte und fuhr wieder und wieder zum
Heimathaus in der Hoffnung, dass jetzt die Tür von ihrer früher so geliebten
Mama geöffnet wird. Und ging jedes Mal leer aus.
Weil das
dritte Muster – der Schrei der Wirklichkeit ist! Das, was Sie jetzt vor sich
sehen. Wenn die Realität gegen die vorher genannten beiden wunderbaren
Vorstellungen auftritt, dann entwickeln wir plötzlich in uns ein Schuldgefühl. Wir
sagen uns: „Vielleicht habe ich irgendetwas nicht so gemacht wie nötig. Gewiss habe
ich sie / ihn nicht richtig geliebt, mich nicht ausreichend um sie / ihn
gekümmert.“ Und danach beginnt die totale Sorge. Mit ähnlicher innerer Raserei
beginnen wir beim ersten Mal eine Diät oder gehen ins Fitnesszentrum, wenn wir
feststellen, dass die zufällig in den Tiefen des Schrankes aufgestöberten geliebten
Jeans aus der Studentenzeit absolut nicht mehr passen. Allerdings verschwindet
Demenz nicht dadurch, dass irgendjemand irgendjemanden mehr zu lieben beginnt. Es
beginnt in der Folge ein Film unserer Zeit: erwachsene Töchter oder Söhne verwöhnen
trotz ihrer extravaganten Kapricen unleidliche Alte, glauben innig daran, dass
sie selbst fürchterliche Kinder sind. Die Betreuten erfassen das alles mit einem fast
tierischem Instinkt, wittern regelrecht das Fluidum der Schuldhaftigkeit, werden
absolut unerträglich, beginnen im eigenen Verhalten Kleinkindern immer
ähnlicher zu werden.
Welch ein Glück, sein Leben lang bei vollem Verstand zu
bleiben.
Gesunder Menschenverstand.
„Bei
gesundem Menschenverstand und nüchternem Gedächtnis.“ – so ähnlich wird es in
unterschiedlichen Dokumenten fixiert oder dann formuliert, wenn stabile
Vereinigungen gegründet werden. Was aber geschieht, wenn einer der Partner
diesen gesunden Menschenverstand bewahrt, der andere jedoch ihn verliert? So etwas
geschah mit Natascha, die einen wesentlich älteren Mann aus Irland heiratete,
mit etwas über 40 Jahren allein im Ausland war, mit miserablen
Sprachkenntnissen, fast ohne finanzielle Mittel zum Überleben und mit einem
Ehemann – einem alten Marasmatiker in den Armen. Als dieser Mann über 60 Jahre alt
wurde, bildete er sich ein, dass Natascha ihn betrügt und gemeinsam mit ihren
Liebhaber ihn umzubringen plant. Alles das erzählte er allen Nachbarn, wenn
Natascha ihn im Invalidenwägelchen spazieren fuhr. Die Nachbarn hörten
teilnahmsvoll nickend zu, nur Natascha, die die irische Unterhaltung nicht
verstand, erfasste nicht, weshalb die Leute einerseits sie seltener grüßten,
andererseits ihren Mann anscheinend besuchen kamen, wenn der nicht daheim war –
was sie wussten. Seine Frau finanziell einschränkend, engagierte der alte Herr
sogar einen Privatdetektiv, welcher Beweise für ihre Untreue sammeln sollte. Als
jener Beweise für ihre treue vorlegte, beschuldigte ihn der Ehemann, mit ihr
gemeinsame Sache zu machen. Was soll man
da sagen? Natascha hätte sich scheiden lassen können, nach Hause zurückkehren
und die unselige Ehe vergessen. Jedoch entschied die abergläubische und gottesfürchtige
Natascha anders. Sie fürchtete, wenn sie den Ehemann in diesem Zustand allein
lässt, dass auch sie in der Zukunft von Demenz geschlagen wird.
Hier widersprechen
die Psychophysiologen! Denn Demenz droht vor allem jenen, welche ihr Leben
gestalten ohne ihre Vorstellungen und Vorgaben zu ändern. Solche Charakterzüge
wie überzogene Prinzipientreue, Hartnäckigkeit, Konservatismus haben im Alter häufiger
Demenz zur Folge als Flexibilität, Fähigkeit zu raschem Ändern von
Entscheidungen, Emotionalität. Ein anderer bekannter russischer Klassiker schrieb:
„Hauptsache ist, Jungs, mit dem Herzen nicht zu altern.“ Es ist jener, der mit fast achtzig Jahren eine
um 40 Jahre jüngere Frau heiratete. Und bis ans Ende seiner Tage glücklich war –
sagt man.
Bleiben Sie recht gesund!
Ihr
Siegfried Newiger
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen